Verhaltnis Landesrecht / Völkerrecht
Die Krux mit dem Völkerrecht
Die SVP See-Gaster lud zum Podium über die Selbstbestimmungsinitiative. Die St.Galler SP-Nationalrätin Claudia Friedl und Hans-Ueli Vogt, Zürcher SVP-Nationalrat und geistiger Vater der Initiative, debattierten in Schmerikon über Schweizer Recht und fremde Richter.
Echo der Zeit: Der «untypische SVPler»
Hinter der SVP-Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» steht Hans-Ueli Vogt. Der Wirtschaftsrechtler sitzt seit drei Jahren im Nationalrat. Mit der Debatte über das Volksbegehren gerät er ins Rampenlicht, obwohl er dieses sonst eher meidet.
Watson: Der einsame SVPler: Ein Vogt kämpft gegen die fremden Richter
Ein brillanter Aussenseiter – so beschreiben Weggefährten Hans-Ueli Vogt. Eigentlich hätte der Vater der Selbstbestimmungsinitiative in diesen Tagen seinen grossen Auftritt. Doch die Begeisterung für seine Initiative ist in der SVP merklich abgekühlt.
Basler Zeitung: Unsere Verfassung ist nicht verhandelbar
Die Selbstbestimmungs-Initiative bringt die grundlegendste aller politischen Fragen aufs Tapet: Wer macht in der Schweiz die Gesetze? Wer bestimmt, was bei uns gilt? Die Initiative gibt darauf eine klare Antwort: Volk und Stände.
BernerZeitung: „Herr Vogt, ist ein heimlicher Staatsstreich der Elite im Gang?“
Interview in der BernerZeitung: http://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/herr-vogt-ist-ein-heimlicher-staatsstreich-der-elite-im-gang/story/14491285
Die Selbstbestimmungsinitiative kommt frühestens Ende 2018 an die Urne. Doch bereits jetzt steht die Front gegen die SVP. Hans-Ueli Vogt ist der geistige Vater des Begehrens. Im Interview stellt sich der Zürcher SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor der Kritik.
Herr Vogt, die Gegner der Selbstbestimmungsinitiative (SBI) schiessen schon aus allen Rohren. Überrascht Sie das?
Hans-Ueli Vogt: Anfangs hat es mich tatsächlich überrascht. Die Initiative fordert ja nichts Spektakuläres. Sondern nur eine Rückkehr zu dem, was hierzulande bis vor kurzem galt.
Das ist die Untertreibung des Jahres.
Warum? Die Initiative ist nichts anderes als eine Reaktion auf ein Urteil des Bundesgerichts von 2012 zur Ausschaffungsinitiative. Es besagt, dass bei einem Konflikt zwischen Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) und unserer Verfassung die EMRK Vorrang habe. Mit anderen Worten: dass das nicht zwingende Völkerrecht der Verfassung vorgehe. Bis dahin war es umgekehrt, wie der Bundesrat noch 2010 bestätigt hat. Und dahin wollen wir mit der SBI zurück.
Ihre Gegner erkennen in der SBI eine Mogelpackung, die den Grundrechtsschutz, die Interessen der Wirtschaft und den Rechtsstaat angreife.
Die SBI ist keine Mogelpackung. Es geht um die einfache Frage: Wer bestimmt, was bei uns gilt? Im besagten Urteil hat das Bundesgericht die Direktive ausgegeben: Das Parlament hat sich bei der Umsetzung von Volksinitiativen in erster Linie an das nicht zwingende Völkerrecht zu halten. Wir aber sagen: Das Parlament hat sich in erster Linie an die Verfassung zu halten.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Die SBI will auch die Praxis des Bundesgerichts ändern, an der sich die SVP stört.
Das Bundesgericht hat in den letzten 22 Jahren mit seiner Rechtsprechung das Verhältnis zwischen Völkerrecht und nationalem Recht immer mehr abgeändert. In immer mehr Facetten hat es dem internationalen Recht den Vorrang eingeräumt – am Ende sogar dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) mit der EU gegenüber einem Umsetzungsgesetz zur Masseneinwanderungsinitiative (MEI).
Teilen Sie das Misstrauen Ihrer Partei gegen unsere Richter?
Wenn Richter fundamentale staatspolitische Fragen eigenmächtig entscheiden, ist zumindest Skepsis angebracht. Denn dafür sind in unserem Land Volk und Stände zuständig – nicht Gerichte.
Die Alternative wäre ein Verfassungsgericht.
Sehen Sie, genau das ist der springende Punkt. Die Befürworter eines Verfassungsgerichts haben es trotz diverser Anläufe nie geschafft, eine solche Kontrollinstanz bei uns politisch durchzubringen. Als Ersatz dafür haben sie nun dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg diese Funktion eingeräumt. Dieses Vorgehen ist unredlich.
Und müssen wir darum in Ihren Augen auch raus aus der EMRK?
Nein, das ist nicht das Ziel . . .
Was denn sonst?
Es geht darum, dass unser Parlament sich nicht weigern darf, Volksinitiativen umzusetzen, weil sie angeblich der EMRK widersprechen. Und darum, dass die Schweiz ein Strassburger Urteil nicht umsetzen muss, wenn dieses im Widerspruch zu unserer Verfassung steht.
Die Schweiz soll also die EMRK brechen, aber nicht kündigen.
Es kann und darf selbstverständlich nicht sein, dass die Schweiz wegen eines Widerspruchs in einem einzelnen Urteil von Tausenden aus dem ganzen Vertragswerk aussteigt. Das wäre doch Irrsinn. Die EMRK ist ein Pfeiler der Schweizer Aussenpolitik.
Aber trotzdem nehmen Sie die Kündigung in Kauf.
Wir haben im Initiativtext ganz bewusst geschrieben, dass die Kündigung von internationalen Verträgen nur «nötigenfalls» erfolgen soll. Die SBI verlangt ja auch nicht den WTO-Austritt wegen eines Widerspruchs in einer einzelnen Vorschrift über den Import von Lebensmitteln. Dass wir das nicht wollen, war von Anfang an klar.
Völlig unklar ist indes, was «nötigenfalls» heissen soll.
Es bedeutet, dass im Einzelfall zu prüfen ist, ob eine Kündigung verhältnismässig und erforderlich ist. Die Schwere des Widerspruchs muss abgewogen werden gegen den Nutzen, beim Vertrag weiterhin dabei zu sein.
Dieses Mal will die SVP also keinen Automatismus.
Ganz genau. Bei der Durchsetzungsinitiative hat man uns vorgeworfen, der Automatismus bei der Ausschaffung krimineller Ausländer sei eine Selbstschussanlage. Jetzt fordern wir bei der SBI Verhältnismässigkeit – und wieder schreien alle auf.
Weil Sie damit wissentlich Umsetzungsprobleme und Rechtsunsicherheit provozieren.
Ach was! Eine allgemein geltende Rechtsnorm kann den konkreten Einzelfall nie adäquat erfassen. Deshalb braucht es einen Ermessensspielraum. Hätten wir die automatische Kündigung bei einem einzigen, noch so kleinen Widerspruch verlangt, hätten alle gesagt, das sei völlig unverhältnismässig.
Und wer entscheidet, ob ein schwerer Konflikt mit der Verfassung vorliegt und die Kündigung eines Vertrags nötig ist?
Wenn das Parlament im Gesetzgebungsverfahren einen Widerspruch zwischen einem Staatsvertrag und der Verfassung feststellt, dann muss es auch die Abwägung vornehmen, ob eine Kündigung erforderlich ist – sofern vorgängig Nachverhandlungen scheitern oder nicht möglich sind.
Das Parlament ist aber nicht in jedem Fall zuständig, oder?
Wer für die Kündigung von Staatsverträgen zuständig ist, ob das Parlament oder der Bundesrat, ist in der Rechtslehre umstritten. Es laufen zurzeit auch politische Bestrebungen, die Frage zu klären. Das hat aber alles nichts mit der SBI zu tun.
Ihre Initiative suggeriert, dass Nachverhandlungen kein Problem seien. Sie wissen, dass das nicht stimmt.
Bilaterale Verträge sind veränderbar, wenn die beiden Seiten sich einigen können. Aber Sie sprechen ein Grundproblem an, das es tatsächlich gibt: Bei multilateralen Verträgen und damit weiten Teilen des Völkerrechts sind Nachverhandlungen nicht möglich. Denn faktisch lassen sie sich nicht mehr abändern. Wenn aber etwas in die falsche Richtung läuft, muss man es korrigieren – wenn nötig durch Kündigung des betreffenden Vertrages.
Ein Konflikt zwischen Staatsvertrag und Verfassung ist oft schwer auszumachen. Das wird dazu führen, dass es vermehrt zu Konstellationen wie bei der MEI kommt, die Ihre Partei dann ausschlachten kann.
Es geht bei der SBI doch nicht um billige Parteipolitik!
Von billig war nicht die Rede.
Die SBI würde Klarheit schaffen. Würde sie angenommen, hiesse das: Besteht bei der Umsetzung einer Initiative ein Konflikt mit einem Staatsvertrag, der mit Nachverhandlungen nicht beseitigt werden kann, dann ist die Kündigung des Staatsvertrages die gewollte Konsequenz des Volksentscheids. Auf diese Konsequenz wird man im Abstimmungskampf natürlich hinweisen.
Meinen Sie damit einen Fall wie die MEI?
Ja, bei der MEI gab es einen klaren Konflikt mit dem FZA, den auch niemand bestritten hat: Freizügigkeit und Zuwanderungssteuerung – das ist ein fundamentaler Widerspruch im Kern. Und ohne FZA-Anpassung lässt sich ein solcher Widerspruch nur beseitigen, wenn man das Abkommen kündigt.
Wäre es der SVP um Klarheit gegangen, hätte sie den Kündigungsauftrag doch einfach in die MEI schreiben können. Das ist bei jeder Initiative möglich, dazu braucht es keine SBI.
Falsch. Als die MEI formuliert wurde, ging man eben noch davon aus, dass ein Verfassungsauftrag über einem Staatsvertrag steht – und Bundesrat und Parlament darum alles Nötige tun müssen, um den Verfassungsauftrag umzusetzen. Dazu hätte nach gescheiterten Verhandlungen auch die Kündigung gehört, damit das FZA nicht verletzt wird.
Jetzt wollen SVP und Auns eine Initiative gegen die Personenfreizügigkeit lancieren, von der erst Varianten bekannt sind. Sind Sie für eine klare Frage mit klar deklarierter Kündigung?
Dazu habe ich mir noch keine abschliessende Meinung gebildet.
Sie gelten als brillanter und präziser Jurist. Befürchten Sie nicht, dass die SBI Ihrem akademischen Ruf schadet?
Dafür sehe ich keinen Grund. Erstens haben Generationen von Schweizer Juristen Staatsrecht mit einem Standardlehrbuch gelernt, in dem es wörtlich heisst: Im Verhältnis von Verfassung und Staatsverträgen gebührt der Verfassung Vorrang. Diesem Grundsatz soll die SBI wieder Geltung verschaffen.
Und zweitens?
Zweitens stehe ich für meine Überzeugung ein. Ich setze mich dafür ein, dass die Bürger in diesem Land das letzte Wort haben. Wenn das meinem Ruf schadet, dann nehme ich das in Kauf.
Sie würden als Wirtschaftsjurist im Völkerrecht herumstochern, monieren Ihre Kollegen.
Dann hätten also bei der Zweitwohnungsinitiative auch nur Besitzer von Zweitwohnungen mitreden sollen? Wohl kaum. Natürlich bin ich kein Staats- oder Völkerrechtler. Aber die Kollegen enervieren sich darüber doch nur, weil sie genau wissen, dass ich trotzdem etwas von der Materie verstehe. Ich komme von aussen und lege den Finger auf einen wunden Punkt. Denken Sie wirklich, dass es jemand aus dem inneren Zirkel der Experten auf diesem Gebiet gewagt hätte, auf diesen Missstand hinzuweisen?
Die Kritik ist auch inhaltlich. So verletze die SBI elementare Grundsätze wie etwa Treu und Glauben: Was abgemacht ist, gilt.
Die SBI sagt nichts anderes. Natürlich ist die Schweiz an abgeschlossene Verträge gebunden: Pacta sunt servanda. Wenn sie sich nicht mehr daran halten will, muss sie nachverhandeln oder sonst kündigen. Tut sie das nicht, trägt sie die Folgen des Vertragsbruchs. Das bleibt unbestritten, hat aber nichts damit zu tun, wie die Schweiz intern mit einem Konflikt zwischen Staatsvertrag und eigener Verfassung umgeht. Hier kann sie sehr wohl die Verfassung voranstellen. Das tut übrigens auch Deutschland, fast alle grossen Staaten auf dieser Welt handhaben das so.
Dann liegen also ausser Ihnen alle Experten falsch.
Die Experten sind hauptsächlich Professoren für Staatsrecht. Staatsrecht ist jener Bereich, in dem politische Wertungen am deutlichsten durchdringen. Dass Professoren ihre Meinung öffentlich äussern, ist legitim.
Aber?
Man muss sich besonders bei Staatsrechtlern bewusst sein, dass in ihren fachlichen Äusserungen immer auch ihre politischen Anschauungen zum Ausdruck kommen. Und die direkte Demokratie ist leider vielen Staatsrechtlern ein Dorn im Auge.
Um die komplexe SBI überhaupt fassbar zu machen, behauptet die SVP auch, es sei ein heimlicher Staatsstreich der Elite gegen das Volk im Gang. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Es geht darum, dass die Stimmbürger in der direkten Demokratie jede Frage an sich ziehen und entscheiden können. Das wollen wir mit der SBI erhalten. Es ist fundamental wichtig, dass die Bürger eingreifen können, wenn die politische Elite in die falsche Richtung marschiert.
Müssen Sie nicht lachen, wenn Sie so von der Elite sprechen?
Nein, überhaupt nicht.
Sie verkörpern die Elite in Reinkultur.
Das heisst aber nicht, dass ich blind bin dafür, was passiert. Die direkte Demokratie ist wichtig als Korrektiv gegenüber Fehlentwicklungen im politischen System. Nehmen wir das Strafrecht, das seit Jahrzehnten fast nur noch auf Resozialisierung ausgerichtet ist. Den Gedanken der Bestrafung und Sühne haben Politik und Gerichte zurückgedrängt – und das Volk hat mit diversen Initiativen zum Ausdruck gebracht, dass es diese Verschiebung nicht will. Dieses Korrektiv wird ausgeschaltet, wenn Volksentscheide nicht umgesetzt werden.
Ich frage Sie direkt: Ist in der Schweiz ein heimlicher Staatsstreich der Elite im Gang?
Das ist nicht meine Ausdrucksweise. Ich habe versucht, in meinen Worten zu sagen, worum es geht.
Aber Ihre Partei und namentlich Christoph Blocher verkaufen die SBI so – und Sie tragen dieses PR-Märchen mit.
Noch mal: Die politisch Verantwortlichen treiben in diversen Bereichen Entwicklungen voran, die immer weniger mit den Anschauungen und Bedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung zu tun haben. Dahinter muss nicht einmal böse Absicht stecken . . .
Also bitte: Die SVP-Geschichte funktioniert doch nur mit unterstellter böser Absicht.
Nein. Wer sich nur noch im politischen Betrieb bewegt, wer vom normalen Leben abgeschottet ist und sich immer nur in den gleichen engen Zirkeln bewegt, dem kann es leicht passieren, dass er sich von weiten Teilen der Bevölkerung entfernt. Und damit dieser Abstand nicht zu gross wird, braucht es eben die direkte Demokratie. Dieses Zusammenspiel müssen wir unbedingt erhalten.
Und darf man dafür sogar einen heimlichen Staatsstreich erfinden?
Die politische Kommunikation darf zuspitzen. Solange sie die Sache im Kern trifft, habe ich kein Problem damit. Es ist eine Aufgabe der Politik, komplexe Probleme und Lösungsvorschläge einfach und verständlich darzulegen.
Quelle: Berner Zeitung http://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/herr-vogt-ist-ein-heimlicher-staatsstreich-der-elite-im-gang/story/14491285
BaZ: «Von gegenseitigen Kontrollen keine Spur»
Trotz Schwimmunterrichts-Urteil: SVP-Nationalrat und Rechtswissenschaftler Hans-Ueli Vogt kritisiert das Weltbild der Strassburger Richter.
http://bazonline.ch/schweiz/von-gegenseitigen-kontrollen-keine-spur/story/21788048
Blick: Sind fremde Richter doch nicht so schlimm, Herr Vogt?
Braucht es nach dem Schwimm-Urteil der «fremden Richter» des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Selbstbestimmungsinitiative der SVP noch? BLICK sprach mit Rechtsprofessor und Nationalrat Hans-Ueli Vogt, der als Vater des Anliegens gilt.
Wer bei uns lebt, muss sich an unsere Regeln halten.
Gut, dass die Richter in Strassburg das auch so sehen. Wir wussten es schon vorher.
Die Richter in Strassburg sagen: Religiöse Vielfalt ist wichtig, damit eine demokratische Gesellschaft überleben kann. Da können wir mal gespannt sein, was die Richter zum Minarettverbot sagen werden. Sie werden sich hüten, ein Urteil zu fällen, bevor in der Schweiz über die Selbstbestimmungsinitiative abgestimmt worden ist.
So oder so, Strassburg oder Brüssel hin oder her: In der Schweiz bestimmen die Stimmbürger. Das muss so bleiben. Und nur darum geht es bei der Selbstbestimmungsinitiative.
Weltwoche: Selbstbestimmungsinitiative
Das Establishment reagiert nervös auf die Initiative gegen fremde Richter. Die von einem aussergewöhnlichen Juristen ausgetüftelte Vorlage berührt die Herzkammern unseres Staates.
NZZ: Unsere Selbstbestimmung erhalten
Meinungsbeitrag von Hans-Ueli Vogt in der NZZ vom 12. August 2016:
Votum im Nationalrat: 40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz
Votum im Nationalrat:
Die SVP-Fraktion hat vom Bericht „40 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz: Erfahrungen und Perspektiven“ Kenntnis genommen, und sie dankt dem Bundesrat für den Bericht. Ein paar kritische Bemerkungen seien dennoch erlaubt. Die „Sakralisierung der Menschenrechte“, wie sie Herr Professor Kley am Samstag in der „NZZ“ angeprangert hat, darf nicht dazu führen, dass über die Rechtfertigung und die Grenzen eines gerichtlichen Menschenrechtsschutzes nicht aufgeklärt und kritisch diskutiert wird. Das würde nämlich die Meinungsfreiheit als Menschenrecht verletzen. Wer sagt, die Menschenrechte seien nicht verhandelbar und damit alles, was irgendwie diesem Begriff zugeordnet werden kann, unantastbar machen oder eben heiligsprechen will, begeht eine Menschenrechtsverletzung.
Ein Bericht über die Auswirkungen des Beitritts der Schweiz zur EMRK sollte tiefer schürfen, als der Bericht des Bundesrates es getan hat. Er sollte namentlich folgenden Fragen nachgehen: Was bedeutet es für unsere Rechtsordnung und unser Staatswesen, dass alle gesellschaftlichen Anliegen und Probleme zu Fragen des Grundrechtsschutzes gemacht werden können? Und was bedeutet es für unsere Rechtsordnung und unser Staatswesen, dass über diese Anliegen in letzter Instanz stets ein Gericht entscheidet?
Ich will auf diese zwei Punkte etwas näher eingehen: Die EMRK und der gerichtliche Rechtsdurchsetzungsmechanismus wurden im Nachgang zum Zweiten Weltkrieg geschaffen, um, wie es in der Präambel zur EMRK heisst, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu schaffen. Die Grundidee, den Schutz grundlegender individueller Rechte in letzter Instanz den Nationalstaaten zu entziehen, damit diese Rechte auch dann gewährleistet sind, wenn alle Gewalt im Staat entgleist ist, verdient Unterstützung – Internationalisierung der Menschenrechte, des Menschenrechtsschutzes als Rettungsring. Nur hat vieles von dem, was der Gerichtshof heute tut, mit dieser Grundidee beim besten Willen nichts mehr zu tun: der Umgang mit Fluglärm, die Lösung von Abfallproblemen, die Regelung der Suizidhilfe, die Verjährung von Schadenersatzklagen, In-vitro-Fertilisation usw. – was haben diese Fragen mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und mit der Grundidee einer externalisierten internationalen Gerichtsbarkeit noch zu tun?
Die Antwort ist: Nichts. Die als Rettungsring gedachte Praxis ist mittlerweile zum Kurs des Schiffes geworden.
Auch der zweite Punkte, mit dem sich der Bericht über die Bedeutung der EMRK für die Schweiz meines Erachtens etwas spezifischer und genauer hätte befassen sollen, hat nicht spezifisch mit der EMRK und dem Europäischen Gerichtshof zu tun, sondern, wie die erste Frage auch, mit Verfassungsgerichtsbarkeit, denn materiell, funktional übt dieser Gerichtshof eine Verfassungsgerichtsbarkeit aus – wohlverstanden eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die über der nationalen Verfassung steht. Das gilt nicht einmal für die grossen Verfassungsgerichte dieser Welt wie jenes in Deutschland oder in den USA.
Verfassungsrechtsprechung ist im Kern – und das ist die Kritik – eben politisch. Das rechtliche Verfahren, in dem über Interessenabwägungen, über den Ausgleich von Interessen entschieden wird, vernebelt im Kern, dass es hier um politische Fragen geht. Ob Asbestopfer auch noch Jahrzehnte später sollen klagen können, ist eine politische Frage. Ob jemand eine Wartefrist einhalten muss, bevor die Krankenkasse die Kosten einer Geschlechtsumwandlung übernimmt, ist eine politische Frage. Ob jemand Militärpflichtersatz bezahlen muss, obwohl er zuckerkrank ist, ist eine politische Frage. Und für politische Fragen wollen wir, dass sie in einem politischen – und das heisst in unserem Staat demokratischen – Entscheidprozess entschieden wird. Warum?
1. Der demokratische Entscheidprozess sorgt für Partizipation und Akzeptanz. Wir können alle möglichen Stakeholders, alle Gruppierungen, alle Interessen in Volksabstimmungen, Vernehmlassungen usw. einbeziehen. Ein Rechtsverfahren, ein gerichtliches Verfahren bietet diesen Vorteil niemals.
2. Politische Fragen sollen deshalb in einem politischen Verfahren entschieden werden, weil in einem politischen Verfahren eben auch die weitreichenden Konsequenzen, inklusive finanzielle Konsequenzen, vor Entscheiden mit einbezogen werden können. Es ist für ein Gericht einfach zu sagen, jemand müsse keinen Militärpflichtersatz mehr bezahlen. Die politische Frage ist: Wer bezahlt dann das Militär im betreffenden Staat?
Dies sind nur zwei Gesichtspunkte, die meines Erachtens zu einer tiefer greifenden politischen Auseinandersetzung mit der Frage gehört hätten, was es für unsere Rechtsordnung und unseren Staat bedeutet, dass ein internationales Menschenrechtsgericht als oberster Souverän der Schweiz waltet.