Kontrollierte Zuwanderung statt Personenfreizügigkeit: Den Systemwechsel in der Zuwanderungspolitik wagen

In: „Weltwoche“ Nr. 38.11 und „Zürcher Bote“ vom 23. September 2011

Die Zuwanderungspolitik der Schweiz basiert auf drei Pfeilern: Personenfreizügigkeit gegenüber den EU-Staaten, kontrollierte Zuwanderung von Personen zum Zweck einer Erwerbstätigkeit aus Drittstaaten und die Gewährung von Asyl für Flüchtlinge. Die SVP-Initiative „Masseneinwanderung stoppen!“ will diese Zuwanderungspolitik ändern und gibt damit Anlass zur Frage, was die richtige Migrationspolitik für die Schweiz ist.

Personenfreizügigkeit bedeutet, dass der Staat auf eine Steuerung der Zuwanderung verzichtet. Personenfreizügigkeit ist eine liberale Zuwanderungspolitik, weil sie den Unternehmen die Freiheit lässt, Ausländer nach ihrem Belieben anzustellen, und weil sie dem Einzelnen die Freiheit lässt zu entscheiden, wo er sich aufhalten und wo er arbeiten will.

Weil die Zuwanderung jedoch nicht nur die Interessen der Arbeitgeber und des Einzelnen betrifft, der sich in einem bestimmten Land aufhalten will, ist Personenfreizügigkeit nicht ohne Weiteres eine gute Zuwanderungspolitik. Das ist sie erstens nur dann, wenn Personen einzig aus gesellschaftlich erwünschten Gründen einwandern und im Land bleiben, zum Beispiel zur Deckung eines Bedarfs an Arbeitskräften. Wenn Personen zwar einwandern, um einer Arbeit nachzugehen, in einem wirtschaftlichen Abschwung dann aber überproportional stark arbeitslos werden und Leistungen der Sozialversicherung beanspruchen, dann ist die Zuwanderung volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Zweitens ist Personenfreizügigkeit nur dann eine gute Zuwanderungspolitik, wenn die Staaten, zwischen denen sie gilt, hinsichtlich der die Migration bestimmenden Faktoren ein ähnliches Niveau haben: in etwa gleiche Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt, gleicher Wohlstand, gleiche Leistungen der öffentlichen Hand usw.

Die Volksinitiative „Masseneinwanderung stoppen!“ der SVP gibt Anlass zur Frage, ob die genannten zwei Voraussetzungen einer liberalen Migrationspolitik im Verhältnis Schweiz-EU erfüllt sind. Die Initiative will nämlich zu einer Politik der kontrollierten Zuwanderung übergehen. Sie will – das ist ihr erster Hauptpunkt –, dass nicht nur die Zuwanderung aus Drittstaaten, sondern auch diejenige aus den EU-Staaten kontrolliert und damit begrenzt ist. Kontrollierte Zuwanderung von erwerbstätigen Personen aus Drittstaaten gemäss heute geltender Ordnung bedeutet, dass die Zuwanderung im Hinblick auf die Interessen der Gesamtwirtschaft gesteuert wird. Die Steuerung ist einerseits eine quantitative, indem für die einzelnen Kategorien von Aufenthaltsbewilligungen jährlich Kontingente festgelegt werden. Andererseits wird die Zuwanderung unter qualitativen Gesichtspunkten gesteuert, indem Bewilligungen im Rahmen des Kontingents nur erteilt werden, wenn kein in der Schweiz oder in der EU Ansässiger für eine bestimmte Stelle gefunden werden kann (Vorrangprinzip) und bestimmte weitere Voraussetzungen erfüllt sind (besondere fachliche Qualifikation, Integrationsfähigkeit). Die Initiative will dieses System gegenüber allen Ausländern zur Anwendung bringen und einen Inländervorrang statuieren.

Der zweite Hauptpunkt der Initiative ist die Einführung eines Kontingentssystems und damit eine quantitative Begrenzung auch im Asylbereich. Eine solche Begrenzung gibt es bis jetzt nicht.

Was spricht für die Volksinitiative?

Das wichtigste Argument zu Gunsten der Initiative lautet, dass eine kontrollierte Zuwanderung für die Schweiz die bessere Migrationspolitik ist als die Personenfreizügigkeit. Die an sich denkbaren Vorzüge der Personenfreizügigkeit kommen im Verhältnis Schweiz-EU zu wenig zum Tragen, die Nachteile überwiegen. Die Wohlstandsniveaus sind im Verhältnis zu den EU-Staaten – jedenfalls einzelnen unter ihnen – zu unterschiedlich. Und der Personenverkehr ist nicht allein volkswirtschaftlich, insbesondere nicht nur durch den Arbeitsmarkt bestimmt, sondern er folgt auch sachfremden, gesellschaftlich unerwünschten Gesichtspunkten. Das sieht man etwa daran, dass der Zuwanderungsüberschuss im Verhältnis zur EU während der Finanz- und Wirtschaftskrise zwar zurückgegangen ist, aber dennoch auf sehr hohem Niveau geblieben ist (ca. 40‘000 Personen pro Jahr), während gleichzeitig zugewanderte Personen in Berufen mit niedrigem Lohnniveau überproportional stark arbeitslos wurden. Der hohe, gesellschaftlich zum Teil unerwünschte Zuwanderungsüberschuss lässt die Bevölkerungszahl auf unbestimmte Zeit stetig anwachsen. Der Frage, wohin das führen soll, kann sich niemand verschliessen. Die Zuwanderung führt zu einer Übernutzung der Infrastrukturen und der natürlichen Ressourcen, zu Problemen der Integration usw. Personenfreizügigkeit ist unter den Umständen, wie sie heute im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bestehen, auf Dauer nicht verkraftbar und darum keine nachhaltige Migrationspolitik.

Für die Initiative spricht zweitens, dass sie den heute geltenden Vorrang von Personen aus der EU gegenüber anderen Ausländern aufheben und stattdessen den Inländervorrang festschreiben will. Wenn der Staat den Unternehmen überhaupt Vorgaben machen soll, nach welchen Kriterien sie die Arbeitnehmer auswählen müssen – als Wirtschaftsliberaler hat man Bedenken gegenüber solchen Vorgaben –, dann sind die bereits im Land Ansässigen gegenüber den noch nicht Ansässigen, also gegenüber allen Personen aus dem Ausland zu bevorzugen. Denn die bereits Ansässigen sind im Arbeitsmarkt und meistens auch gesellschaftlich integriert, sodass es sich rechtfertigt, nicht Ansässige erst einzustellen, wenn für eine bestimmte Stelle niemand zu finden ist, der sich bereits in der Schweiz aufhält.

Das dritte Argument zu Gunsten der Initiative ist die Einführung eines Kontingentssystems auch für das Asylwesen. Die bekannten Probleme, die in diesem Bereich bestehen, sind wesentlich auch Probleme, die mit der schieren Anzahl der zu bewältigenden Fälle zu tun haben. Eine quantitative Steuerung ist darum gerechtfertigt. Dabei können die Kontingente problemlos so festgelegt werden, dass die Schweiz ihre humanitären Verpflichtungen aufgrund des zwingenden Völkerrechts erfüllen kann.

Was ist zu den Argumenten gegen die Volksinitiative zu sagen?

Gegen die Initiative wird angeführt, dass die Schweiz auf qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen sei. Das ist tatsächlich so. Ohne die Zuwanderung dieser Fachkräfte, aber auch ohne die nach wie vor starke Zuwanderung im Bereich der niedrigen Erwerbseinkommen wäre die Erfolgsgeschichte der Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahren und insbesondere von 2004 – 2008 nicht möglich gewesen. Eine solche Zuwanderung und wirtschaftliche Entwicklung soll mit der Initiative aber auch gar nicht verhindert werden. Die Kontingente würden mit Blick auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen festgesetzt. Wenn sie nicht zu knapp bemessen sind, könnte die Zuwanderung in einem System mit Kontingenten während eines Aufschwungs so gross sein, wie wenn Personenfreizügigkeit bestünde. Wer die Initiative kritisiert mit dem Hinweis auf den Bedarf an Fachkräften aus dem Ausland, muss darum den Nachweis erbringen, dass der Aufschwung der Jahre 2004 – 2008 mit einem System der kontrollierten Zuwanderung nicht möglich gewesen wäre. In einem Abschwung oder in einer Krise könnte die Zuwanderung mit einem Kontingentssystem begrenzt werden, während sie unter dem Regime der Personenfreizügigkeit nicht genügend stark nachlässt und es vor allem keine genügende Rückwanderung gibt.

Gegen die Initiative wird weiter angeführt, sie gefährde die bilateralen Beziehungen zur EU. Hierzu ist zuerst festzuhalten, dass das, was die Initiative will, dem Personenfreizügigkeitsabkommen widerspricht: hier freier, quantitativ und qualitativ unbegrenzter Personenverkehr mit Privilegierung von Personen aus der Schweiz und der EU, dort Kontingentierung mit Vorrang der Inländer gegenüber allen Ausländern. Ein Ja zur Initiative würde aber nicht das Ende der guten Beziehungen mit der EU bedeuten. Die Schweiz steht seit dem EWR-Nein andauernd in bilateralen Verhandlungen mit der EU über die verschiedensten Sachgeschäfte. In einem solchen Verhandlungsverhältnis kann der Personenverkehr als Geschäft wieder eingebracht werden, wo er dann im Verbund mit anderen Geschäften neu geregelt wird. Die Vertreter der EU werden auch nicht aus allen Wolken fallen, wenn die Schweiz erklärt, dass sie den Personenverkehr neu regeln will; dass die Personenfreizügigkeit Probleme verursacht, hat man in manchen EU-Ländern auch festgestellt (so kürzlich in Spanien, das mit Bezug auf die Zuwanderung aus Rumänien die Ventilklausel angerufen hat). Schliesslich ist auch nicht anzunehmen, dass eine Neuverhandlung des Personenverkehrs zum Dahinfallen der übrigen Verträge der Bilateralen I führen würde (obwohl dies, weil die verschiedenen Verträge miteinander verbunden sind, theoretisch denkbar ist), denn die EU hat an etlichen dieser Verträge selber ein grosses Interesse, namentlich am Landverkehrsabkommen.

Schliesslich noch zum Argument, die Personenfreizügigkeit stärke die Sozialwerke und ohne sie würde die AHV bereits rote Zahlen schreiben. Selbstverständlich zahlen die zugewanderten Personen zurzeit mehr Beiträge ein, als sie Leistungen beziehen. Diese positive Bilanz wird sich aber, je nach Berechnung, in ca. 10 – 20 Jahren in ihr Gegenteil wenden. So gesehen verschafft die Personenfreizügigkeit zwar eine Verschnaufpause bei der Reform der Sozialwerke; eine Zuwanderungspolitik, die nötige Reformen verzögert, ist aber gewiss keine nachhaltige Politik.

Kontrollierte Zuwanderung heisst nicht Abschottung, sondern aktive Einflussnahme des Staates darauf, wer sich auf seinem Territorium aufhält. Sie ist für die Schweiz die bessere Migrationspolitik als die Personenfreizügigkeit. Darum sollte der Personenverkehr mit der EU neu geregelt werden, im Sinne einer kontrollierten Zuwanderung, wie sie bereits heute für Personen aus Drittstaaten gilt. Die damit verbundene vorübergehende Unsicherheit in den bilateralen Beziehungen ist in Kauf zu nehmen, und allfällige Nachteile in anderen Politikbereichen sind als Teil eines Verhandlungsergebnisses zu akzeptieren, wenn dieses insgesamt gut ist.

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